Hespeler

Archiv: Bruno Hespeler

Regulation von Rehwildbeständen

Vortrag auf der Bundesdelegierten-Tagung der Arbeitsgemeinschaft naturgemäße Waldwirtschaft (AnW) 2019 in Baden-Baden

Bruno Hespeler

Je kleinstrukturierter der Wald, desto günstiger ist er als Rehlebensraum.

(Foto © J. Borchers)


Meine sehr geehrten Damen und Herrn, hätte ich sie jetzt mit sehr geehrte Rehwildproduzenten begrüßt, hätten sie das sicher als Affront verstanden. Dabei hätte ich den Nagel auf den Kopf ge- troffen.Lassen sie mich etwas ausholen: Für die „Natur“ gibt es weder tragbare noch untragbare Rehwildbestände. Rehe sind – wie Käfer, Wolf, Sturm und Mensch – nur Gewichte auf einer bald nach rechts, bald nach links ausschlagenden Waage. Natur arbeitet mit einem Perpetuum mobile, nicht mit starrer Balance!

So lange wir keine wirtschaftlichen Erwartungen an den Wald stellen, dreht sich die Welt mit oder ohne Rehe. Bilder, die wir dann Chaos nennen, nennt die Natur schlicht Sukzession.

Hermann Ellenberg hat vor fast einem halben Jahrhundert postuliert: Rehwild diktiert den Waldbau! Es war der erste Teil einer absoluten Wahrheit. 

Lassen sie mich den zweiten Teil nachschieben: Forstwirtschaft und Landschaftsstruktur bestimmen die Rehwilddichte!

Rehwild und Forstwirtschaft beeinflussen sich gegenseitig. Nichts kurbelt den Rehbestand mehr an, als intensive Waldnutzung. Dabei ist es zweitrangig wie und von wem der Wald genutzt wird – von Waldbesitzern, Stürmen oder Insekten. Immer entstehen rehfreundliche Strukturen.

Mit der Kleinheit des Waldes, mit seiner Strukturierung, seiner Grenzlinienlänge wächst die Zahl der Rehe stark an.Wenig anfangen können Rehe mit großen, strukturarmen Wäldern. Ich finde solche noch bei meinen slowenischen und italienischen Nachbarn. Zahl und Einfluss der Rehe auf den Wald sind dort vergleichsweise gering.

Man kann Rehe in solchen Wäldern unter Umständen sich selbst überlassen. In deutschen oder österreichischen Wäldern funktioniert das nicht. Auch der Schwarzwald ist ein stark zerrissener, absolut rehfreundlich strukturierter und verhältnismäßig kleiner Wald. Ohne intensive Jagd nutzen die Rehe solche „Waldreste“ bis an die Grenzen der Biotopkapazität. Waldbauliche Zielsetzungen kennen sie nicht.

In vielen deutschen und österreichischen Revieren wird mehr Rehwild überfahren als geschossen! (Foto © B. Hespeler)


„Man kann in einen See kein Loch schöpfen, das fortan wasserfrei bleibt. Man kann nur den Seespiegel insgesamt absenken!“ Die Rehwildbestände sind auf großer Fläche nicht an den Lebensraum Wald angepasst. 

(Foto © ÖKOJAGD-Archiv)


Wer pachtet eine Jagd, damit dort der Wald nach forstlichen Vorstellungen wachsen kann. Und wenn, wer hat das Können, die gesellschaftspolitische Möglichkeit und die Zeit?

(Foto © ÖKOJAGD-Archiv)

Jägerische Selbstüberschätzung

In meiner Wahlheimat Kärnten bedeutet Wirtschaftswald für die Mehrheit der bäuerlichen Waldbesitzer Fichte mit Einzelschutz. Laubholz wird von vielen Waldbesitzern immer noch herausgereinigt. Genutzt wird überwiegend schlagweise. Doch wo ich selbst die Fichte schützen muss, wird die Jagd entbehrlich.

Wald, wie Sie ihn vor Augen haben, ist unter den Bedingungen eines übersiedelten Landes nicht ohne intensive Jagd zu erreichen.

Doch das Problem: Intensive Jagd kurbelt die Rehwildreproduktion an und sie erschwert sich selbst. Die Vegetation macht die Rehe unsichtbar und unsere Dauerpräsenz wird für Rehe zu einem Master-Studium „Überleben mit menschlichen Jägern“!
Vergessen wird vielfach, dass der menschliche Jäger nur einer von vielen ist. Der Klub der Rehwildjäger hat viele Mitglieder, vom Bakterium über Fuchs und Wetter bis zum Auto. Der Beitrag des menschlichen Jägers zur Rehwildnutzung ist – insgesamt gesehen – eher gering.
In vielen deutschen und österreichischen Revieren wird mehr Rehwild überfahren als geschossen!

Die Rehwildstrecken steigen in Europa seit mehr als einem Jahrhundert. Folglich kann in den letzten Jahrzehnten – auf großer Fläche – nicht einmal der Zuwachs genutzt worden sein.

Das heißt: der zweibeinige Jäger ist mehr Accessoire der Landschaft als Regulator.
Seine Aufgabe wäre es, außerhalb der kompensatorischen Sterblichkeit zu ernten. Ideologie, Ignoranz, purer Jagdneid, ein der Zeit hinterherhinkendes Naturverständnis und ein die Jagd fes-selndes Skelett behördlicher Buchhaltung erschweren das ungemein. Politik und Behörden haben sich über Jahrzehnte als Bewahrer hoher Rehwildbestände erwiesen.
Was nun die fehlenden Freiheiten angeht, so befindet sich der Gesetzgeber auf dem Weg der Besserung, zwar nicht so sehr in meiner Wahlheimat Österreich, wohl aber in einigen deutschen Bundesländern. Was immer noch bremst, ist die autonome Freiheitsbeschränkung im Kopf vieler Jäger. Die alte Angst, die Rehe auszurotten und der Glaube, dass es ohne Selektion nicht gehe, der Wahn, Rehe müssten gefüttert und planerisch „bewirtschaftet“ werden, lebt insgesamt weiter. Daran ändert auch nichts, wenn es punktuell anders ausschaut. Man kann in einen See kein Loch schöpfen, das fortan wasserfrei bleibt. Man kann nur den Seespiegel insgesamt absenken! Das geschieht nicht.
Die Diskussion um eine dem Wald dienende Jagd währt nun länger als ein halbes Jahrhundert. Das ist über alle Maße verwunderlich, immerhin ist der Wald der Lebensraum der Rehe. Forstpolitik mag sich ändern, die Bedürfnisse der Rehe bleiben, also müsste der Jäger ein mindestens ebenso großes Interesse am Wald haben wie der Förster oder Waldbesitzer.
In Bayern war Ministerialdirektor Wölfel in den 1960er-Jahren der Erste, der offen für das eintrat, was notwendig und damals seit einem halben Jahrhundert längst Gesetz war. Gegner und Blockierer musste er nicht unter den Freizeitjägern suchen. Er konnte voll aus den eigenen Reihen schöpfen.
Als in den 1980er-Jahren die Forderung „Wald vor Wild“ erst zaghaft, dann lauter zu hören war, versuchten wir, Abschusserhöhungen im unteren zweistelligen Bereich durchzusetzen. Schon das löste Entrüstungsstürme aus.
Schlimmer noch: Wir versicherten – selbst daran glaubend! – es handle sich um temporäre Anstrengungen für die Dauer von zwei, drei Jahren. Dann, so die frohe Botschaft, sei der Bestand reduziert und wir könnten wieder jagen wie in alten Zeiten.
Doch wenn der Wald dauerhaft wirtschaftlich interessant sein soll, dann bedarf das auch dauerhaft einer anderen Jagd auf ganzer Fläche! Jetzt werden sie die ökologische Vielfalt vermissen. Aber wenn ich die großen, weitgehend ungenutzten Buschwälder meiner friulani-schen Nachbarn betrachte, dann finde ich dort eine kolossale ökologische Vielfalt. Halt eine andere als im wirtschaftlich interessanten Dauerwald Brandenburgs oder der Eifel. Dies – dort – mit einer vergleichsweise unbedeutenden Jagd.
Selbst wenn die Abschusszahlen wieder sinken, wird die Jagd schwieriger, je naturnäher der Wald wird. Sie wird schwierig bis zur Ratlosigkeit und manchmal Resignation. Der Förster als treusorgender Rehvater, wie er vielerorts bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts verbreitet war und von Jägern geliebt wurde, schoss alljährlich seinen Bock und seine beiden Ricken. Bei dieser Do-sierung hielt die Passion bis weit über die Pensionierung hinaus. Heute wird für viele Förster aus Passion verdammt schnell Frustration.


Letztlich: Wir wissen, was jagdlich notwendig wäre. Dennoch sind die jagdlichen Ziele und Erwartungen vieler Jäger immer noch die unserer Großväter.
Wer pachtet eine Jagd, damit dort der Wald nach forstlichen Vorstellungen wachsen kann. Und wenn, wer hat das Können, die gesellschaftspolitische Möglichkeit und die Zeit?
Anmerkung: im Umland Wiens werden pro Hektar bis 130 Euro plus Mehrwertsteuer bezahlt …

Was der Kopf nicht zulässt, kann weder der Schrotschuss noch die Nachtjagd, noch die Drückjagd liefern. Es ist nicht die Frage „wie funktioniert es?“, sondern ausschließlich die, wer und wie viele es ernsthaft wollen.

(Foto © F. Straubinger)

Prophezeiungen
Von Seite der Wildbiologie ist zu hören, die Klimaerwärmung werde – neben vielen anderen Arten – auch den Rehen zusetzen. Wahrscheinlich hätten wir den Kulminationspunkt bereits überschritten. Begründet wird das mit der Vorverlegung phänologischer Fixdaten. Ich habe mich belehren lassen, die Äsungspflanzen des Rehwildes würden ihren höchsten Eiweißgehalt schon erreichen, ehe die Kitze auf feste Nahrung umstellen.

Das habe zur Folge, dass sie zu schwach in den Winter gingen und diesen deshalb vielfach nicht mehr überleben. Welch ein Blödsinn!
Wenn mich meine Sinne bisher nicht völlig trogen, dann haben die Äsungspflanzen des Rehwildes ganz unterschiedliche Blühzeitpunkte und manche blühen sogar mehrfach im Jahr. Die Länge des Tageslichtes – unter anderem Einfluss nehmend auf die Einnistung befruchteter Eier in die Gebärmutter im Frühwinter wie auf den Setzzeitpunkt – kann mich nicht schrecken. Schon immer lagen die Setztermine – weniger von der Tageslichtlänge als von Höhenlage und Klima beeinflusst – weit auseinander. Und schon immer lebten Reh im Hochwinter ohne Fütterung weit oberhalb der Waldgrenze.
Wer naturnahen Wirtschaftswald will, wird Rehe auch in Zukunft intensivst bejagen müssen. Das wird nicht leichter werden, sondern schwieriger!
Dazu bedarf es auf breiter Front eines den Bedingungen der Zeit gerecht werdenden Jagdverständnisses. Jetzt werden sie erwarten, dass endlich der Schrotschuss auf den Tisch kommt oder andere technische Erleichterungen. Nun jage ich seit mehr als drei Jahrzehnten regelmäßig auch dort, wo die meisten Rehe mit Schrot geschossen werden – aber ich finde auch dort dieselben waldbaulichen Probleme wie rechts des Rheins oder südlich der Ostsee. Was der Kopf nicht zulässt, kann weder der Schrotschuss noch die Nachtjagd, noch die Drückjagd liefern. Es ist nicht die Frage „wie funktioniert es?“, sondern ausschließlich die, wer und wie viele es ernsthaft wollen!

Weder der Luchs noch der Wolf haben Interesse daran, sich in den Wald-Wild-Konflikt einzumischen. Die Fluchtdistanz der Rehe zum Wolf ist eher geringer als jene zum Jäger! 

(Foto © R. Bernhardt)


Falsche Hoffnungen
Als sich vor Jahrzehnten der erste Luchs in den Schwarzwald verirrte, äußerten viele Waldbesitzer und Forstleute Hoffnung, diese Katze werde Wald und Wild in Einklang bringen. Inzwischen wird der Wolf bemüht. Doch keiner von beiden hat Interesse daran, sich in den Wald-Wild-Konflikt einzumischen. Jeder Versuch würde so kläglich scheitern wie unsere Versuche. Es genügt ein Blick in die Slowakei, nach Slowenien oder Kroatien.
Eines dürfen wir festhalten: Die Fluchtdistanz der Rehe zum Wolf ist eher geringer als jene zum Jäger! Darüber sollten wir nachdenken.
Vielleicht haben wir schon viel zu viel Kraft mit der ständigen Forderung nach jagdlichen Allheilmitteln vergeudet. Beispiel Vereinsjagd …! Ich lebe in einem Land, in dem rund 80 % der Gemeindejagden an Jagdgesellschaften (Jagdvereine) verpachtet sind. Das mag sozial interessant sein, für den Wald ist es vielfach verheerend.
Was diesem Wald immer noch entgegensteht, sind Rehwildabschusspläne. Ein wertloses Papier der unteren Jagdbehörde, die sich mehrheitlich wohl gerne von ihm verabschieden würde. Auch die Pflichttrophäenschau ist ein Anachronismus, immerhin in einigen deutschen Bundesländern bereits gefallen.
Ein Fütterungsverbot wäre Hege und Tierschutz im besten Sinne. Millionen Jahre haben Rehe ohne Fütterung überlebt, ohne Acidose und ohne nachteilige Eingriffe in Verhalten und Physiologie dieser Wildart. Es sterben im Winter vielerorts mehr Rehe an Futter als an Futtermangel und Witterung! Tierliebe wird zur Tierquälerei. In weiten Teilen des alpinen Raums wird nicht gefüttert, ja es gibt Fütterungsverbote. Ein Umdenken ist erkennbar.
Gerade in Baden-Württemberg haben die Untersuchungen der Wildforschungsstelle im Bereich des ehemaligen Forstamtes Blaustein sehr deutlich gezeigt, welchen Einfluss Fütterung auf Zuwachs, Migration, Verbiss und Sterblichkeit des Rehwildes haben. Das meiste Fallwild gab es mit Fütterung.

Niemand will bei uns die Rehe ausrotten. Wir wollen so jagen, dass ein stabiler, standort- und zeitgerechter Wald wachsen kann. 

(Foto © E. Emmert)

Veränderte Machbarkeiten
Rehwild wird in Deutschland zumindest neun von zwölf Monaten des Jahres bejagt. In Österreich sind es acht Monate. Wir leisten uns nach Alter und Geschlecht differenzierte Jagdzeiten, die wildbiologisch keinerlei Sinn machen. In Oberösterreich haben wir sechs verschiedene Jagdzeiten allein für Rehböcke, je nach Alter und Geweihgewicht.
Wir halten das Rehwild in seiner Gesamtheit neun Monate unter Dauerdruck und wundern uns, dass wir nichts mehr sehen.

Fazit:

Man kann verbissene Tannen zählen, aber keine lebenden Rehe.
Die Sichtbarkeit der Rehe wird weiter abnehmen. Die Sicherheitslage und die kritische Einmischung der Bevölkerung werden die Jagd weiter erschweren. Umstrittene Jagdtechniken wie der Schrotschuss werden gerade dort auf den größten Widerstand stoßen, wo sie aus Gründen der Sicherheit am sinnvollsten wären. Das gilt für die Methodik wie für die Jagdzeiten. Daher ist ein großer rechtlicher Rahmen dort gut, wo in ihm die Vernunft das Sagen hat.
Nicht der zeitlich maximale Einsatz ist der erfolgreichste, sondern jener, der auch den Blick der Rehe auf uns zulässt und in seine jagdstrategischen Überlegungen mit einbezieht. Es gibt nicht die eine Rehwildjagd der Zukunft. Je mehr reguliert, empfohlen und verordnet wird, umso hilfloser werden wir sein.
Wir wissen nicht, wie die Wälder von morgen tatsächlich ausschauen. Sie mögen den Bedürfnissen des Rehwildes entgegenkommen. Der Jäger wird ausreizen, was zulässig ist und wird mit einer immer kriegsähnlicheren Jagdtechnik hilflos einer friedlichen und letztlich siegreichen Guerilla der Rehe gegenüberstehen.
Lassen sie mich noch einmal Friaul erwähnen. Dort kann jedes Revier jedes Jahr wählen, wie es jagen will: La Caccia traditionale oder la Caccia selektore. Die einen jagen drei Wochen mit Hund und Flinte – durchaus strukturiert. Die anderen jagen acht Monate selektiv (made in Germany). Die einen erfüllen in drei Wochen, wozu die anderen acht Monate brauchen! Am Waldzustand erkennen wir die Art der Bejagung nicht, eher am Verhalten der Rehe.

Ich darf bezüglich der Machbarkeit an zwei europäische Länder erinnern. Bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts galt Rehwild in Großbritannien als „ver-min“ – als Ungeziefer. Was der Grundbesitzer sah, schoss er, mit Kugel wie mit Schrot. Es gab weder Abschussplan noch Schonzeit.
Das Rehwild wurde dabei – trotz lokal bester Vorsätze – nicht ausgerottet. Genauso gehen die Briten heute noch mit dem Muntjak um.
In Dänemark beträgt die Mindestgröße eines Reviers = 10.000m2, also 1ha, kaum Wald, kein Abschussplan, Schrotschuss, Pfeil und Bogen – steigende Strecken …
Niemand will bei uns die Rehe ausrotten. Wir wollen so jagen, dass ein stabiler, standort- und zeitgerechter Wald wachsen kann. Das wäre auch, wenn man so will, ein „Rehwild-Dauerwald“. Aber so lange Politik, Jägerschaft und Forstverwaltung Rehe verwalten, statt sie zu erlegen, schöpfen wir erfolglos Löcher in einen See, in dem das Wasser nicht weniger wird! Was der Einzelne in 20 Jahren erreicht, zerstört der Nachfolger in zwei Jahren der Nachlässigkeit.


Bruno Hespeler war lange Jahre Berufsjäger in der Bayerischen Staatsforstverwaltung und Forstrevierleiter im Privatwald, bevor er aus dem Staatsdienst ausschied.Seit den 1980er Jahren betätigt er sich als Autor von Fachbüchern zur Jagd, freier Journalist sowie Berater und Gutachter. Ursprünglich aus Baden stammend, lebte Hespeler erst im Allgäu, bevor er sich später in Kärnten niederließ.

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